Am Puls der Zeit! Politische Theorie als Herausforderung der Geschichte

Am Puls der Zeit! Politische Theorie als Herausforderung der Geschichte

Organisatoren
Clemens Kauffmann / Andrea Buheitel / David Schkade, Bayerisches Promotionskolleg Politische Theorie; Michael Spieker, Akademie für Politische Bildung Tutzing
Ort
Tutzing
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.09.2016 - 16.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
David Schkade, Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Bei schönstem Spätsommerwetter feierte das Bayerische Promotionskolleg Politische Theorie sein zehnjähriges Bestehen mit einer Jubiläumstagung vom 14.-16. September 2016 in der Akademie für Politische Bildung Tutzing vor der prachtvollen Kulisse des Starnberger Sees. Das Tagungsthema „Am Puls der Zeit! Politische Theorie als Herausforderung der Geschichte“ stieß offensichtlich auf breite Resonanz, so dass sich neben den Mitgliedern des Promotionskollegs, der einschlägig arbeitende wissenschaftliche Nachwuchs, zwei ausgezeichnete Gastwissenschaftler und die interessierte Öffentlichkeit in der Akademie einfanden. Die Tagung maß den Puls der Zeit und nuancierte den Befund, dass die politische Theorie entgegen verbreiteter Auffassung durchaus auch Aussagen transhistorischer Validität treffen kann. In den vielfältigen Vorträgen und Diskussionen gelang es, die dauerhafte Relevanz von politischen Ideen und Theorien deutlich zu machen. Einzelne geschichtsphilosophische Positionen wurden in den Vorträgen und im Plenum auf ihre aktuelle Relevanz hin diskutiert und auch die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Demokratie konnte am Einzelfall nachgewiesen werden.

Als Vertreter des Bayerischen Zentrums für Politische Theorie eröffnete CLEMENS KAUFFMANN (Erlangen-Nürnberg) die Tagung und den ersten Themenkomplex zu „Geschichtlichkeit und politischer Methodologie“ mit einem Vortrag zur Typologie politischer Vernunft. Kauffmann argumentierte gegen die landläufige These, wonach die Geschichte politische Theorien zwangsläufig überhole und diese nur der Ausdruck der politischen Kämpfe ihrer Zeit seien. Mit einer Typologie politischer Vernunft konnte er zeigen, dass sich bestimmte Grundtypen politischen Vernunftgebrauchs identifizieren lassen, die grundsätzlich jederzeit möglich sind. Diese reichen von somatischen über religiöse und konstruktivistische bis hin zu noetischen Typen. Je nachdem mit welchem Typ man es zu tun hat, das Politikverständnis unterscheidet sich erheblich und die Konsequenzen sind beträchtlich: So erscheint die Verständigung in der Politik auf der einen Seite des Spektrums als möglich und der Kampf als unpolitisch, wohingegen auf der anderen Seite der Kampf selbst zum Politischen wird und eine Verständigung zwischen den Kämpfenden unmöglich erscheint. So ergibt sich ein vielversprechendes und innovatives Analyseinstrumentarium, das unerwartete Zusammenhänge zu Tage fördern kann: Michel Foucault, Ernst Jünger und Carl Schmitt liegen auf einmal in ein und demselben gefährlichen Bett. Man darf gespannt sein auf Kauffmanns vierbändiges Opus Magnum ‚Wege und Formen politischer Vernunft‘.

Nach weiteren Vorträgen war der erste Abendvortrag von JEAN-FRANÇOIS KERVÉGAN (Paris) ein weiterer Höhepunkt der Tagung. Kervégan beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Rezeption des Werks des umstrittenen Staatsrechtlers und Kronjuristen des Dritten Reichs Carl Schmitt in Frankreich und Deutschland. Er rekonstruierte die weitreichende und schon früh einsetzende Schmitt-Rezeption diesseits und jenseits des Rheins, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des beeindruckenden Kenntnisreichtums seiner eigenen Biographie. So setzte sich etwa Jacques Derrida gegen Widerstände für ein von Kervégan initiiertes Projekt zur Schmitt-Rezeption ein und später war es Kervégan, der Chantal Mouffe zu ihrer folgenreichen Schmitt-Lektüre anregte. Auch was die deutsche Schmitt-Rezeption angeht war Kervégan selbst Teil einer Polemik. So gehört er neben Ellen Kennedy zu den prononciertesten Vertretern der These, dass es eine versteckte Schmitt-Rezeption bei Jürgen Habermas gebe, die von beträchtlichem Einfluss auf diesen sei. Insgesamt bestärkte Kervégans Vortrag die These, dass die politische Theorie auch jenseits ihrer zeithistorischen Kontexte unter veränderten Bedingungen eine enorme Wirkung entfalten kann.

Am zweiten Tagungstag ging es in vielfältiger Weise um geschichtsphilosophische Konzeptionen. Der Vortrag von ANDREA BUHEITEL (Erlangen-Nürnberg) spürte Leo Strauss’ Historismuskritik mit einem intellektuell-biographischen Ansatz nach. So zeichnete sie ein Portrait von den Anfängen in der Weimarer Republik und dem Einfluss Nietzsches bis hin zu Strauss’ Wirken an der University of Chicago. Dabei brachte sie einige erhellende Kontexte ins Spiel und warnte davor Strauss’ Versuch die relativierende Macht der Historie selbst zu relativieren, könne Gefahr laufen in politische Absolutheitsansprüche zu verfallen.

CHRISTIAN MARTY (Zürich) schließlich identifizierte in seinem Vortrag eine seiner Ansicht nach in der Forschung oft übersehene geschichtsphilosophische Dimension im Werk Max Webers. Nach Marty habe Weber in allem zeitlichen Wandel das Motiv eines „ewigen Kampfes“ als Grundkonstante des Politischen gesehen und die Konsequenz daraus gezogen: Wer die Realität des Kampfes in der Politik nicht anerkenne, der gehe unter. Marty sah die Einflüsse auf Webers Kampfidee im Wesentlichen bei Marx und Nietzsche. Diskutiert wurde, inwiefern Webers vermeintlich werturteilsfreie Gleichsetzung von Politik und Kampf, doch auf impliziten Vorannahmen und versteckten Werturteilen beruhe, würden doch die verständigungsorientierten Dimensionen des Politischen von Weber in der These vom ewigen Kampf ausgeblendet.

Der zweite Abendvortrag von FRANK-LOTHAR KROLL (Chemnitz) ging der weitgehend unbekannten Idee und Praxis eines sozialen Königtums im Europa des 19. Jahrhunderts nach. Kroll präsentierte seinen Vortrag als Fallstudie der historischen Wirkung einer politischen Idee. Die Idee des sozialen Königtums entstand als Antwort auf die Herausforderung der sich im 19. Jahrhundert verschärfenden sozialen Frage. Im Gegensatz zum Marxismus war sie die pragmatischere und weniger theoretisch elaborierte Antwort. Die Idee fand zwar einige Verbreitung, scheiterte aber letztlich in der Praxis. Es zeichnete sich die These ab, dass politische Theorien von geringer Reichweite und pragmatischer Ausrichtung bei Fehlschlägen leichter von der Geschichte überholt und eliminiert werden, als ihre elaborierteren und „philosophischeren“ Geschwister.

Den abschließenden Themenkomplex zum Verhältnis von politischer Theorie und Demokratie eröffnete CLEMENS REICHHOLD (Hamburg) mit einem die Materie durchdringenden Vortrag zu von Hayeks Geschichtsauffassung. Reichhold charakterisierte von Hayeks Geschichtsverständnis als ungewollt-evolutionären Geschichtsprozess mit durchaus manichäischen Zügen. Er sah sie als konstitutiven Bestandteil einer depolitisierenden und dezidiert konservativen Ideologie, die bis heute eine breite Wirkung erfahren habe. Diskutiert wurde im Anschluss unter anderem von Hayeks aktuelle Relevanz inmitten der aktuellen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank sowie seine Rezeption in verschiedenen europäischen Staaten.

Neben dem wissenschaftlichen Programm bot die Tagung auch ein Podium auf dem zwei Absolventinnen und ein Absolvent des Promotionskollegs zu ihren Karrieren im Anschluss an die Promotion in gekonnter Weise vom guten Geist der Akademie – Michael Spieker – befragt wurden. Janine Bentz-Hölzl gewährte Einblicke in ihre Karriere bei Audi im Bereich „Interne Kommunikation“, Eva Odzuck in ihre wissenschaftliche Laufbahn zuletzt als Gastwissenschaftlerin an der University of California, Berkeley und Peter Kainz berichtete von seiner Laufbahn bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die er als Referent begann. So zeigte sich durch drei exemplarische Karrieren, dass es diesseits und jenseits wissenschaftlicher Fragestellungen durchaus interessante Berufsperspektiven für die Absolventen des Bayerischen Promotionskollegs Politische Theorie gibt.

Insgesamt wurde die Jubiläumstagung als sehr anregend und wissenschaftlich gehaltvoll empfunden. Typologische und hermeneutische Ansätze schienen besonders geeignet zu sein, um überzeitliche Geltungsansprüche fachlich fundiert diskutieren zu können. Die disziplinäre Kombination von Politischer Theorie, Geschichtswissenschaft und Philosophie erwies sich als gelungenes Beispiel für bereichernde Interdisziplinarität, jenseits bloßer Floskeln und hegemonialer Ansprüche. Auch der Austausch in den Pausen und den Abendstunden hatte stets seinen Reiz, so dass man sich gewünscht hätte die Tagung möge noch ein wenig länger dauern. Bleibt zu hoffen, dass dies nicht die letzte Jubiläumsveranstaltung des Bayerischen Promotionskollegs Politische Theorie gewesen ist und der Akademie für Politische Bildung Tutzing zu danken, dass sie ihrem Auftrag einmal mehr im besten Sinne gerecht geworden ist.

Konferenzübersicht:

Einführung und Begrüßung

Michael Spieker (Tutzing) / Barbara Zehnpfennig (Passau) / Clemens Kauffmann (Erlangen)

Panel 1: Geschichtlichkeit und politische Methodologie

Clemens Kauffmann (Erlangen): Zur Typologie politischer Vernunft

Vanessa Jansche (St. Gallen): Ideengeschichte als Dialog mit der Vergangenheit: Ein struktureller Vergleich antiker und moderner Politikkonzepte

Linda Sauer (München): Das Ende als Neuanfang: Politik und Geschichte nach Arendt und Hegel

Abendvortrag

Jean-François Kervégan (Paris): Carl Schmitt: Rezeption und Polemik. Das Beispiel Frankreichs und Deutschlands

Panel 2: Politische Theorie und Geschichtsphilosophie

David Schkade (Erlangen): Kojèves Entdeckung der Identität von Begriff und Zeit als Grundlage seiner Geschichtsphilosophie

Felix Steilen (Berlin / Jerusalem): Dauer als Zentralelement in der Politischen Theorie

Andrea Buheitel (Nürnberg): Historismuskritik bei Leo Strauss

Christian Marty (Zürich): Der ewige Kampf: Geschichte und Politik bei Max Weber

Tim Kraski (Budapest): Wird’s die Geschichte am Ende „richten“? Anmerkungen zu Adam Smiths Geschichtsphilosophie

Alumni-Panel: Politische Theorie als berufliche Qualifikation

Janine Bentz-Hölzl (Ingolstadt), Peter Kainz (Bonn), Eva Odzuck (Erlangen), Michael Spieker (Tutzing)

Abendvortrag

Frank-Lothar Kroll (Chemnitz): Idee und Praxis eines sozialen Königtums im Europa des 19. Jahrhunderts

Panel 3: Politische Philosophie und die Gegenwart der Demokratie

Clemens Reichhold (Hamburg): Neoliberales Denken als depolitisierende Ideologie: von Hayeks Geschichtsauffassung

Albert Dikovich (Wien): Demokratie und demokratische Revolution als Urstiftung und Nachstiftung: Überlegungen im Anschluss an Maurice Merleau-Ponty

Ki-myoung Kim (Berlin): Spinoza: Natur gegen Geschichte?


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts